Geschichtlicher Abriss über Glocken in Europa

Die Glocke ist eines der ältesten der Menschheit bekannten Musikinstrumente. Vor rund 4.000 Jahren gab es bereits ganze Glockenspiele in China. Es blieb damals nur dem Kaiser vorbehalten, ein solches Glockenspiel zu besitzen.

 

Später tauchten kleine Glöckchen und Schellen im Urartäischen Reich und in Lorestan auf. Über Handelswege gelangte die Glocke schließlich auch in das heutige Europa. Schon die Römer fanden Gefallen an Schellen. Sogar einer der vielen Jupitertempel Roms trug an seinem Giebel kleine Glöckchen.

Im Christentum fand die Glocke erst relativ spät eine Verwendung. Es war im 6. Jahrhundert, als iroschottische Wandermönche Missionierungsreisen auf dem europäischen Festland unternahmen und auch Handglocken als Signalgeber dabei hatten. Hierbei handelte es sich in der Regel um aus Eisenblech zusammengeschmiedete Glocken, deren Klang äußerst dumpf und kurzatmig ist. Exemplare aus dieser Zeit sind kaum vorhanden. Auf deutschem Boden ist besonders der sogenannte "Saufang" zu nennen. Dies ist eine Eisenblechglocke des 9. Jahrhunderts, welche rund 1.000 Jahre lang in der Kirche St. Cäcilien in Köln gehangen hat und heute Bestandteil des dortigen Kölnischen Stadtmuseums ist.

 

In dieser Zeit begann man auch mit dem Guss von Bronzeglocken, da immer größere Kirchtürme gebaut und somit auch größere Glocken benötigt wurden. Eine der größten romanischen Glocken auf deutschem Boden hängt noch heute in der Bad Hersfelder Stiftsruine. Die dortige Lullusglocke wurde 1038 von einem Gießer namens Gwenon geschaffen, so wie es in ihrer Inschrift steht. Sie wiegt rund 1.000 kg und besitzt einen sehr schepprigen, fast schon dämonisch anmutenden Klang. Dies ist auf ihre Rippe, also ihr Profil zurückzuführen. Glocken aus dieser Zeit wurden ausschließlich in bienenkorbähnlichen Formen gegossen und tragen daher auch den Namen Bienenkorbglocken. Dieser Glockentyp war bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts gebräuchlich. In dieser Zeit sehnte man sich nach wohlklingenderen Glocken, da der Klang von Bienenkorbglocken schon von Zeitgenossen als "horridus" bezeichnet wurde.

So entwickelte sich ab ca. 1150 die Zuckerhutglocke. Hier wurde die Rippe insofern verändert, dass die Glocken von ihrem Habitus her deutlich schlanker und höher wurden. Als Beispiel für ein fast unverändert erhaltenes Dreiergeläut aus Zuckerhutglocken sollen die Glocken von St. Pankratius im sauerländischen Stockum dienen. Diese wurden um 1200 von ein und dem selben Gießer geschaffen und bilden heute das älteste, noch vollständig erhaltene Geläut dieser Zeit auf deutschem Boden. Doch die klanglichen Qualitäten der Zuckerhutglocken waren nicht das, was sich wohl viele Glockengießer erhofft hatten, obwohl der Unterschied zu Bienenkorbglocken schon fast frappierend ist.

 

Noch im 13. Jahrhundert entwickelte sich die noch heute gebräuchliche gotische Dreiklangrippe. Die Glockengießer waren nun in der Lage, möglichst tonreine und aufeinander abgestimmte Glocken und Geläute zu gießen. Ein frühes Beispiel für ein abgestimmtes Geläut aus der Zeit bildete das im Jahre 1300 gegossene Geläut der Abteikirche zu Brauweiler. Die beiden größeren Glocken wurden zwar 1630 umgegossen, anhand der Gewichte lässt sich aber deutlich ablesen, dass das Geläut in einem pentatonischen Dreiklang (Ut - Re - Mi) erklang. Dies ist insofern ungewöhnlich, da in früheren Zeiten das Zusammenläuten aller Glocken generell nicht vorgesehen war, sondern jede Glocke ihre eigene Funktion hatte.

 

Im 15. Jahrhundert entwickelte sich die Glockengießkunst in Europa zu einer Blüte, die sie seitdem nie wieder erreicht hat. In dieser Zeit entstanden außergewöhnlich viele und qualitativ hochwertige Glocken. Die berühmteste aller mittelalterlichen Glocken ist die Gloriosa des Erfurter Doms, gegossen im Jahre 1497 von Gerhardus van Wou. Van Wou gilt bis heute als der bedeutendste Glockengießer des ausgehenden Mittelalters - und das auch zurecht. Er perfektionierte das Werk seiner Vorfahren auf ein außergewöhnlich hohes Level, welches bis dato nicht mehr erreicht wurde. Auch die Kunst, Geläute aus einem Guss hervorragend aufeinander abzustimmen, beherrschte Van Wou wie kein anderer. Er starb 1527 und wurde im niederländischen Kampen (Provinz Overijssel) beigesetzt. Mit dem Tod Gerhardus van Wous endete auch allmählich die Blütezeit des Glockengusses in Europa.

 

Der Bedarf an Glocken war nun weitestgehend gedeckt, die Glockengießer konnten sich in ihrem Werk kaum noch entfalten. Als schließlich 1618 der Dreißigjährige Krieg ausbrach, war an den Guss von Glocken kaum noch zu denken. Die Glockengießer mussten nun hauptsächlich Geschütze gießen. Viele Kirchen und auch ihre Glocken wurden zerstört. Erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges lebte die Glockengießkunst wieder ein wenig auf. Diesmal waren es hauptsächlich französisch-lothringische Wandergießer aus dem Bassigny, welche durch die Lande zogen und Glocken von außerordentlich guter Klang- und Gussqualität schufen.

In den Niederlanden waren es zwei Brüder, deren Namen noch heute untrennbar mit der Kunst des Gießens von Glockenspielen und Carillons verbunden sind: Francois und Pieter Hemony. Die beiden Brüder stammten aus Levécourt und reisten über Deutschland in die Niederlande ein. Sie schufen die Stradivaris unter den Carillons. Von diesen ist heute nur noch jenes der Hippolytuskirche in Middelstum (Provinz Groningen) im Originalzustand erhalten geblieben. Sämtliche andere wurden im Laufe der Zeit durch moderne Glocken ergänzt und tonkorrigiert und somit in ihrem musikhistorischen Wert zerstört.

 

Eine neue Welle der Glockenproduktion brachte die industrielle Revolution. Ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden vermehrt vor allem historische Glocken umgegossen. Die Glockengießer waren nicht in der Lage, ihre eigenen Glocken an vorhandene anzupassen, sodass der Einfachheit halber gleich ganze Geläute geopfert wurden. Auch vor mittelalterlichen Glocken machte man keinen Halt. Dies zeigt vor allem das traurige Beispiel des alten Domgeläutes zu Paderborn, dessen beiden größten Glocken, gegossen im 13. Jahrhundert, zugunsten eines neuen Geläutes eingeschmolzen wurden.

Doch brachte das 19. Jahrhundert auch Neuerungen im Glockenguss mit sich. So wurden ab 1854 von der Firma Mayer & Kühne in Bochum, später auch als der Bochumer Verein bekannt, Stahlglocken gegossen. Kurz vor Beginn des 1. Weltkrieges war es die Firma Ulrich & Weule, welche mit der Produktion von Eisenhartgussglocken begann.

 

Die Jahre 1917 und 1918 sind wieder schwarze Jahre für das europäische Glockenwesen. Zigtausende Glocken wurden in diesem kurzen Zeitraum zu Kriegszwecken von den Türmen geholt und verhüttet. Besonders wertvolle Glocken und Geläute blieben in der Regel verschont, doch machte man auch keinen Halt vor Zuckerhut- oder gar Bienenkorbglocken. Nach Kriegsende erlebten die Glockengießereien wieder einen förmlichen "Glockenboom", da viele Kirchengemeinden ihre verlorengegangenen Exemplare wieder ersetzen wollten. Die Freude über die neuen Glocken hielt aber meistens nicht lange. 1940 wurde beschlossen, sämtliche Glocken im Einzugsbereich der Nazis zu erfassen und ihres Wertes nach in Kategorien zu unterteilen. Ab 1941 begannen schließlich die ersten Ablieferungen. Bis 1945 waren es rund 150.000 Glocken, die von den Nazis eingeschmolzen wurden - allerdings nicht zu Rüstungszwecken. Vielmehr steckte die Intention dahinter, der Kirche ihre Stimme zu rauben, was den Nazis leider auch erfolgreich gelang. Durch Bombenangriffe wurden meist noch äußerst wertvolle Glocken und Geläute zerstört, die von der Ablieferung freigestellt waren (z. B. das aus dem 13. und 14. Jahrhundert stammende, vollständig erhaltene Hauptgeläut des Doms zu Minden).

 

Nach Kriegsende waren vor allem Glocken aus Ersatzwerkstoffen begehrt. Bronze war teuer und man hatte vor allem Angst, seine neuen Glocken im Falle eines 3. Weltkriegs wieder abliefern zu müssen. Die Stahlglocken des Bochumer Vereins verkauften sich förmlich wie warme Semmeln, in Ostdeutschland waren Eisenhartgussglocken sehr begehrt und vor allem im östlichen Teil Nordrhein-Westfalens konnte sich die Glockengießerei Junker aus Brilon mit ihren Glocken aus sogenannter Briloner Sonderbronze bei den Kirchengemeinden behaupten. In Bayern stellte die Erdinger Glockengießerei unter der Leitung von Karl Czudnochowsky Euphonglocken her. Nach und nach wurden aber wieder vermehrt Bronzeglocken gegossen. Als schließlich der Bochumer Verein 1970 die Stahlglockenproduktion einstellte und Karl Czudnochowsky ebenfalls 1970 verstarb, gab es keine Gießerei mehr, die Glocken aus Ersatzwerkstoffen goss. Seitdem werden bis heute ausnahmslos Bronzeglocken gegossen.

 

Heutzutage ist man darum bemüht, sämtliche Stahl- und Eisengeläute auszutauschen, da diese angeblich eine Haltbarkeit von durchschnittlich 80 Jahren aufweisen. Dieser Irrtum wird von sämtlichen Sachverständigen immer noch für bare Münze genommen, sodass in unserem Land die Anzahl an Glocken und Geläuten aus Stahl und Eisen nach und nach schwindet.

Und wie der Klang im Ohr vergehet,

Der mächtig tönend ihr entschallt,
So lehre sie, dass nichts bestehet,

Dass alles Irdische verhallt.

Friedrich von Schiller

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© Matthias Dichter